@yippie,
du fragst,
Zitat:
Dann meinst du also, dass die Gehbehinderten, die nicht zu einer Gruppe der Gehbehinderten zugehörig fühlen, nicht mit "Sie sind gehbehindert" genannt werden sollen, sondern einfach sagt, "sie können nicht laufen". Richtig?
Ja und nein. Man kann nicht Taubsein mit anderen Behindertsein vermischen. Gehbehindertsein, ausgedrueckt in
'ich bin gehbehindert', bezeichnet eher das Verhaltensmuster, typisch eines Gehbehinderten, aber es ist bei weitem kein kultureller Zustand wie das Taubsein. Das Nichtlaufenkoennen ist nur ein Teil des Bedeutungskomplexes (= Gebaeude mit Bedeutungen) hinter
"ich bin/er ist gehbehindert'. Wer nur an die Unfaehigkeit des Laufens denkt, sagt - wenn man Wert auf emanzipatorische Formulierung legt - treffender mit
'kann nicht laufen bzw. benutzt/bewegt sich mit dem Rollstuhl' oder aehnliches. Wenn aber ueber architektonische Barriere, wie Treppen, dann erst recht das Wort
'(geh)behindert', gleich "behindert in der Fortbewegung durch Treppen". (Historisch ist der Ausdruck
'behindert' bzw. 'Behinderung' nur in Beziehung zum Entfernen von Barrieren eingefuehrt worden, nicht als Euphemismus des medizinisches Wortes
'geschaedigt'. Es war zuerst einfach
'behindert'. Aber leider hat man ihn danach aus Sprachtraegheit gleichbedeutend zu
'geschaedigt' gemacht und damit neue Wortschoepfungen
'koerperbehindert', 'gehbehindert', 'hoerbehindert' usw. gekreiert.)
Das Wort
'taub' kann liberal auch jemanden "moechte-gern-hoerend" bezeichnen, wenn man nichts anderes ueber sie spricht. Er hat die gleiche Veranlagung, taub zu sein, aber wurde verhindert. Diese Person wuerde wohl nicht sagen moechten,
'ich bin taub'. Das ist ihre Sache. Fuer ihr Verhalten als Oralisten stehen genuegend andere Woerter zur Verfuegung, wie
'hoergeschaedigt', 'oral', 'hoergerichtet', 'monolingual deutsch sprechend', 'nur/vorwiegend lautsprachlich sprechend' usw.
Die Aussage [i]'Ich bin (er/sie ist) stumm' drueckt folglich mehr als die Unfaehigkeit des Sprechens aus. Das wuerde diskriminierend sein. Dann lieber
'... kann nicht sprechen', wenn nur die Sprechunfaehigkeit angesprochen wird. Nenne ich einen Hoerenden nach der Kehlkopfoperation mit
'stumm' waere unhoeflich von mir!
Das Anliegen mit dem Wort
'stumm' ist, dass bisher nur die Lautsprache als Sprache und das Sprechen mit dem Mund als die einzige Modalitaet gegolten haben. Die Gebaerdensprache wird durch diese monopolistische Einstellung diskriminiert. Weil man nur in Lautsprache zu kommunizieren duenkt, denkt er in
'stumm' zugleich die kommunikative Unfaehigkeit.
Was ich zu sagen versuche, ist dass man sich emanzipatorisch (= nach Gleichstellung strebend, antidiskriminierend) im Sprachgebrauch bemuehe. Als erster Schritt in dieser Richtung erklaere man, dass der Begriff
'Sprache' auch Gebaerdensprache umfasst. Also eine Bedeutungserweiterung des Begriffs. Dann verwendet man andere Begriffe im Bereich von Kommunikation auch bedeutungserweiternd, wie '
sagen', 'reden', 'schweigen', 'sprachlos', 'sprechen', 'hoeren' (diese beide kontextabhaengig) und auch
'stumm'. Alle diese koennen auch in GS gemacht werden. Sie sind bereits bedeutungserweiternd im Sprachgebrauch, also schon unproblematisch. Siehe
'in GS/mit Haenden sprechen', 'im Buch spricht er ...', 'stumm vor Schrecken', 'stumm bleiben' ("nicht antworten/sagen") usw. Im Endeffekt wuerde sich der Gebrauch von
'stumm' auf "unfaehig, etwas wegen Schrecken, Entsetzen, Verlegenheit, Nachdenklichkeit zu sagen" reduzieren, weil sehr wenige Menschen vollkommen sprachlos sind.
Da die oben aufgezaehlten Woerter schon allgemein sowohl Lautsprache als auch Schrift und Gebaerdensprache betreffen, moechten wir durch unseren bestaendigen Sprachgebrauch das verstaerken und zugleich ins gesellschaftliche Bewusstsein bringen, dass Sprache auch GS einschliesst, und dass nicht das muendliche Sprechen, sondern Kommunikation, die Hauptsache sei. Dies verhilft unser Emanzipationsstreben und die gesellschaftliche Akzeptanz von Taubheit als Normalzustand.